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MATTHIAS HARTWICH

DER ZUG HAT FAHRT AUFGENOMMEN

Matthias Hartwich in einem alten Stellwerk (1918) in der SBB-Produktionsanlage Ost in Biel.

Vor einem Jahr hat Matthias Hartwich sein Amt als SEV-Präsident aufgenommen. Ein Rückblick und Ausblick.

Wenn du dieses Jahr mit einem Wort beschreiben müsstest, welches Wort würdest du wählen? 

Ich würde das Wort «Weichenstellung» wählen, weil wir ganz viel auf den Weg gebracht haben, weil wir richtungweisende Entscheidungen gefällt haben und weil wir uns auf den Weg gemacht haben, den SEV zu entwickeln und zu modernisieren. Wir können auch sagen, der Zug hat Fahrt aufgenommen.

Was war das Schönste, das du erlebt hast?

Das Schönste war, wenn Kolleginnen und Kollegen mich wirklich als Kollegen wahrgenommen haben, mich so begrüsst und aufgenommen haben. Schön war auch, als wir Ende des Jahres trotz der schwierigen Umstände, in denen wir uns befunden haben, die Zahlen angeguckt und gemerkt haben, dass die Mitgliederzahlen stabil geblieben sind.

Was waren denn die schwierigen Momente im letzten Jahr?

Wir hatten eine ganze Reihe Personalwechsel. Das ist immer schwierig für eine Organisation wie den SEV, mit einem relativ kleinen professionellen Gewerkschaftsapparat. Mich hat natürlich geschmerzt, dass sowohl der Vizepräsident als auch die Vizepräsidentin gegangen sind. Doch mit Patrick Kummer und Valérie Boillat haben wir sehr gute und hochmotivierte neue Personen für diese Stellen gefunden. Und: Ein Personalwechsel kann auch eine Chance sein. Auch mein Kernteam hat sich erneuert (Anm. der Redaktion: neuer Politkoordinator, neue Werbe- und Jugendverantwortliche, neuer Leiter Kommunikation). Ich habe ein Riesenglück, dass diese Kolleginnen und Kollegen grosse Lust haben, den SEV weiterzuentwickeln. Ich spüre eine enorme Dynamik. Aber wir brauchen selbstverständlich beides. Wir brauchen auch personelle Kontinuität, Erfahrung und ein institutionelles Gedächtnis.

Du hast es gesagt, der SEV hat nur einen kleinen Profiapparat. Viel Arbeit leistet die Miliz, also die Freiwilligen. Wie ist dein Verhältnis zur Miliz? Du hast im letzten Jahr zuweilen müde ausgesehen.

Ja, ich habe bestimmt schon mehr geschlafen als im zurückliegenden Jahr. Ich war sehr viel unterwegs und habe möglichst viele Sektionen besucht. Ich hoffe, dass trotzdem keines unserer Mitglieder das Gefühl hat, dass ich nicht hellwach für sie oder für ihn war. Ich habe das Gefühl, von der Miliz getragen zu werden. Da bin ich sehr dankbar. Ich bin angekommen, denn ich kam ja nicht vom Fach, aus dem Verkehrssektor. Viele Kolleginnen und Kollegen haben mir wirklich ein Stück den Weg gewiesen.

Wie ist deine Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern und anderen Playern im öffentlichen Verkehr angelaufen?

Wir haben uns als SEV die vier Grundwerte Respekt, Transparenz, Demokratie und So-lidarität auf die Fahne geschrieben. Respekt und Toleranz sind mir auch gegenüber unseren Partnerinnen und Partnern wichtig. Das heisst, wir respektieren unsere Sozialpartner, aber wir erwarten auch deren Respekt. Das gilt auch gegenüber der Politik. Ich glaube, wir haben uns Gehör und Respekt verschafft.

Es gab und gibt zwei politische Themen, die uns besonders beschäftigt haben. Da ist die Finanzpolitik, also Bedrohungen, wie z. B. die Kürzungen im regionalen Personenverkehr, aber auch die EU-Verhandlungen, welche die Schweiz anstrebt.

Also, ich glaube, wir können beide Dossiers nicht voneinander trennen. Natürlich möchte man das gern. Ich glaube aber, wir müssen uns klar machen: Der öffentliche Verkehr in der Schweiz ist ein integriertes System, angefangen bei den regionalen Bus- und Tramunternehmen, kleinen Eisenbahnverkehrsunternehmen, der S-Bahn bis hin zum internationalen Personenverkehr, aber auch der Güterverkehr gehört dazu. Das kann nur funktionieren, wenn wir das System als solches erhalten. Mir ist diese ganzheitliche Sicht auf den öffentlichen Verkehr, die Betrachtung als System, extrem wichtig. Dort sind wir herausgefordert. Natürlich ist es schön, wenn man mal gewinnt. Im regionalen Personenverkehr konnten wir tatsächlich Politik und Gesellschaft überzeugen, dass unser System so gut ist, dass es auch weiterhin anständig gefördert werden muss. Da bin ich ein bisschen stolz auf meine Kolleginnen und Kollegen, die ganz intensiv dafür gearbeitet haben. Auch den Politikerinnen und Politikern, die uns unterstützt haben, bin ich dankbar. Und für das Europa-Dossier gilt natürlich: Wir müssen wachsam bleiben, weil Liberalisierung eine Falle ist. Öffnung heisst eben nicht Liberalisierung, sondern Öffnung heisst mehr internationaler Personenverkehr, mehr Verbindungen. Das kann man im kooperativen System, das wir in der Schweiz sehr erfolgreich leben, durchaus machen. Dafür braucht man keine privaten Verkehrsunternehmen und fremden Bahnen auf Schweizer Schienen. Unser integriertes System funktioniert auch hier.

Ein anderes Thema, das uns beschäftigt, ist die Situation unseres grössten Sozialpartners, der SBB. Die Finanzen sind immer noch in Schieflage wegen Corona, obwohl die Unternehmung gute Zahlen schreibt. Eine schwierige Situation?

Wir bemühen uns um konstruktiven und begleitenden Dialog. Das ist uns wichtig. Natürlich werden wir hellhörig, wenn Sparübungen verkündet werden, wenn gesagt wird, sie wollen in den nächsten Jahren 6 Milliarden Franken einsparen. Das heisst, wir werden dort sehr aufmerksam sein. Aber generell finde ich, liefen die Gespräche bislang immer konstruktiv und fair ab. Wir setzen darauf, dass das auch so bleibt. Die SBB ist ein sehr wichtiger Sozialpartner, aber nicht der einzige für uns. Wir haben auch die anderen Unternehmen, mit denen wir Gesamtarbeitsverträge haben. Wir sind nicht eine Ein-Unternehmen-Gewerkschaft. Die KTU, die anderen Eisenbahnverkehrsunternehmen, GATA sowie die Nahverkehrsunternehmen sind uns genauso wichtig. Es gibt keinen «Zwei-Klassen-SEV».

Wo müssen wir als Gewerkschaft bei den KTU den Finger drauflegen?

Es gibt ein ganz grosses Thema: Das ist die Personalrekrutierung. Der Personalmangel wird immer deutlicher. Wir haben ja schon Fälle, in denen Verbindungen ausfallen, in denen Linien ausgedünnt werden. Das heisst, die Berufe müssen attraktiver werden. Aus unserer Sicht hängen der Arbeits- und Gesundheitsschutz unmittelbar damit zusammen. Die Kolleginnen und Kollegen dürfen nicht überlastet werden, sondern müssen mit anständigen Arbeitsbedingungen gesund unterwegs sein. Nur so gewinnen auch diese Unternehmen das Personal, das sie brauchen. Da helfen wir gerne mit. Dafür braucht es gute Gesamtarbeitsverträge, gute gemeinsame Regelungen und guten Dialog. Gute Arbeitsbedingungen helfen bei der Rekrutierung von gutem Personal. Und das ist am Ende im Interesse der gesamten Gesellschaft.

Welches Thema beschäftigt uns sonst noch in unmittelbarer Zukunft?

Wichtig ist für uns, bei der Frage der Digitalisierung an Bord zu sein. Denn unsere Kolleginnen und Kollegen werden Veränderungen in ihren Berufen erfahren, nicht nur bei den Bahnen, auch in allen anderen Verkehrsunternehmen. Das heisst, wir müssen die Digitalisierung kritisch begleiten. Wir müssen einen Fuss in der Tür haben, damit die Unternehmen nicht einfach das machen, was technisch möglich ist, sondern das tun, was die Technik hergibt, aber was gleichzeitig den Menschen hilft und nützt. Es geht um das, was die Menschen brauchen. Und das gilt sowohl für Kundinnen und Kunden als auch für die Beschäftigten.

Michael Spahr